Ein digitales Mietshaus unserer Daten: Wer hier einzieht, bleibt gebunden – die Vermieter wissen das. (Grafik: Sara Sparascio)
Technologie
7.12.2025 | Reto Vogt
Digitale Zukunft der Schweiz: Eigenständig oder abhängig?
Warum die Schweiz ihre Souveränität im digitalen Raum verteidigen muss. Ein Essay von Reto Vogt
Jeff Bezos, Satya Nadella, Sundar Pichai, Elon Musk und Sam Altman. Die fünf mächtigsten Männer der Welt beherrschen die Cloud-Infrastruktur, auf der unsere Wirtschaft läuft, das Betriebssystem und Büroanwendungen unserer Verwaltungen, die Suchmaschine, die unser Wissen formt, das soziale Netzwerk, das den politischen Diskurs prägt, und die künstliche Intelligenz, die unsere Zukunft definiert.
Und sie haben den sechstmächtigsten Mann in der Hand: Donald Trump. Der US-Präsident liess sich von ihnen Wahlkampf, Amtseinführung oder seinen neuen Ballsaal finanzieren und verzichtet dafür zum einen auf sämtliche Regulierung der Big-Tech-Konzerne Amazon, Microsoft, Google, X und OpenAI, zum anderen setzt er sie als Druckmittel gegenüber europäischen Staaten ein. Trump sagt sinngemäss: «Wenn andere Länder unsere Techkonzerne regulieren, dann erhöhe ich einfach die Zölle.»
Und wenn gewisse Länder oder Organisationen nicht spuren, weist Trump Big Tech an, ihnen den Zugang zu sperren. Passiert ist das unter anderem dem Chefankläger des europäischen Strafgerichtshofs, Karim Khan, dem Microsoft den Zugang zu seinem Mailkonto abklemmte. Eine doppelte Erpressung, die wir uns gefallen lassen müssen.
Die fünf Vermieter
Die Schweiz war schon immer ein Volk von Mietern. Aber auf dem Wohnungsmarkt gilt: kündigen, Möbel auseinanderschrauben, umziehen und wieder zusammenschrauben. Lästig, aber machbar. Bei unserer digitalen Infrastruktur funktioniert das nicht. Wenn es uns bei Microsoft oder AWS nicht mehr gefällt, können wir nicht einfach zu einem anderen Anbieter wechseln. Unsere Daten, unsere Prozesse, unsere gesamte Verwaltung sind so tief in deren Systeme integriert, dass ein Umzug Jahre dauern und mindestens Millionen kosten würde. Unsere Behörden und Unternehmen haben sich in Wohnungen eingerichtet, aus denen sie nicht mehr ausziehen können. Und die Vermieter wissen das.
Die Abhängigkeit lässt sich in harten Zahlen messen. Rund 50 Milliarden Franken fliessen jährlich für Dienstleistungsimporte aus der Schweiz in die USA, ein Grossteil davon für Tech-Services. Gleichzeitig hat unsere öffentliche Hand in den letzten zehn Jahren rund 1,1 Milliarden Franken allein für Microsoft-Lizenzen ausgegeben. Rund zwei Drittel unserer börsenkotierten Unternehmen vertrauen einer Erhebung zufolge ihre Kommunikation US-Anbietern an – in sensiblen Branchen wie Pharma und Finanzen sogar noch mehr.
«Ohne digitale Dienste steht unsere Gesellschaft still. Sie gehören heute zur kritischen Infrastruktur – so wie Strom, Trinkwasser und Verkehr», schreibt die Digitale Gesellschaft Schweiz in einem aktuellen Positionspapier zu digitaler Souveränität. Doch anders als bei Elektrizität, Wasserversorgung oder Mobilität kontrollieren wir diese Infrastruktur nicht selbst.
Unsere Daten und unsere Prozesse sind so tief in den Systemen von Microsoft und Amazon Web Services integriert, dass ein Umzug Jahre dauern und mindestens Millionen kosten würde.
Rechnung auf dem Tisch
Warum gibt es keinen lauteren Widerspruch dagegen? Weil es bequem ist, sich mit dem Status quo abzufinden. Zu glauben, Technologie sei neutral und die Kommunikation der Konzerne transparent. Weil wir jahrelang von der digitalen Dividende in Form von günstigen, sofort verfügbaren Services profitiert haben, ohne die Rechnung zu sehen. Jetzt liegt sie auf dem Tisch.
Plattformpolitik ist Machtpolitik. Und diese Macht kostet uns nicht nur Geld, sondern auch Wettbewerbsfähigkeit. Jeder Franken, der nach Silicon Valley fliesst, fehlt hier für Innovation – nicht nur der Wirtschaft, sondern auch dem Staat.
Die Schweiz investiert 100 Millionen Franken in den Supercomputer Alps und stellt 20 Millionen bereit für KI bis 2028. Zum Vergleich: Die USA stecken 500 Milliarden Dollar in das Stargate-Projekt, die EU mobilisiert 200 Milliarden Euro und China hat in den letzten zehn Jahren über 900 Milliarden Dollar in KI gesteckt.
Die Asymmetrie wird noch absurder, wenn man sich die Steuerfrage anschaut: Tech-Giganten erwirtschaften in der Schweiz riesige Umsätze, zahlen darauf aber kaum Steuern. Schlimmer noch: Um
die US-Regierung zu besänftigen und tiefere Zollsätze zu erwirken, hat der Bundesrat Mitte November sogar versprochen, auf eine Digitalsteuer zu verzichten. Bezos, Nadella, Pichai und Co. haben also nicht nur direkten Einfluss auf unsere Datenhaltung, sondern dank Trump auch indirekten Einfluss auf unsere Steuerpolitik.Dabei wäre eine nationale Digitalsteuer auf die Umsätze von Amazon, Microsoft oder Google überfällig. Diese Einnahmen könnten zweckgebunden in einen Fonds für digitale Souveränität fliessen, aus dem der Aufbau eigener Infrastruktur, die Förderung von Open-Source-Projekten oder die Ausbildung von Spezialistinnen und Spezialisten finanziert würde. Aber darauf können wir nicht hoffen. Genauso wenig wie darauf, dass der Bundesrat wirkungsvolle Regulierung gegen Big Tech beschliesst. Das Paradoxon ist komplett: Wir zahlen Milliarden an US-Techkonzerne. Die USA greifen uns mit Zöllen an. Und wir verzichten darauf, genau diese Konzerne zu besteuern oder gesetzliche Grenzen aufzuerlegen, um die USA zu besänftigen.
Wege aus der Abhängigkeit
Auf den Bundesrat können wir also nicht zählen. Auch bisherige europäische Grossprojekte wie Gaia-X sind weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Trotzdem kann die Schweiz nicht im Alleingang digital souverän werden, dafür sind wir schlicht zu klein.
Was es braucht, ist ein neues Modell europäischer Zusammenarbeit. Eine Gruppe von Forschern hat dafür eine Blaupause skizziert: «Airbus for AI». Die Basis der Idee: In den 1960er-Jahren schlossen sich europäische Staaten zusammen, um Airbus zu gründen und der Dominanz der US-Luftfahrtindustrie etwas entgegenzusetzen. Heute dominiert Boeing den Himmel nicht mehr allein – dank europäischer Kooperation. Warum sollte das nicht auch für digitale Infrastruktur funktionieren?
Die Digitale Gesellschaft Schweiz bringt es auf den Punkt: «Die Zeit zum Handeln ist jetzt, bevor sich bestehende Abhängigkeiten weiter verfestigen. Heute sind wir nicht frei, sondern erpressbar. Nur wenn wir unsere digitale Infrastruktur langfristig eigenständig betreiben und gestalten können, bleibt die Schweiz digital wettbewerbsfähig, sicher und selbstbestimmt.»
Was heisst das konkret? Der Staat muss sein Beschaffungswesen nach Souveränitätskriterien ausrichten statt nach dem Preis. Er muss Open Source priorisieren, souveräne Infrastruktur und KI-Modelle aufbauen, die nicht in Virginia oder Shenzhen stehen, sondern hier. Und Unternehmen müssen aufhören, Abhängigkeit als Schicksal zu akzeptieren.
Das Ende der digitalen Naivität ist auch eine Frage, die wir alle für uns beantworten müssen: Entweder wir gestalten unsere digitale Zukunft selbst oder wir bleiben Mieter in Wohnungen, aus denen wir nicht mehr ausziehen können.
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