Im Streitfall führt der Weg zur Klärung meist über eine vertrauensärztliche Beurteilung. (Symbolbild: Adobe Stock)
Recht
3.12.2025 | Andrea Florin
Kranke Arbeitnehmer: zwei Mal krank, zwei Mal vor Kündigungen geschützt
Die Kolumne der Kanzlei Lalive in Zürich gibt Antworten auf juristische Fragen, die Schweizer KMU beschäftigen können beziehungsweise beschäftigen sollten.
Erkranken Arbeitnehmende, darf die Arbeitgeberin während einer gewissen Zeit nicht kündigen. Hat die Arbeitgeberin bereits zuvor gekündigt, steht die Kündigungsfrist während des Krankenstands für eine gewisse Dauer still. Diese Zeiten nennt man Sperrfrist. Die Sperrfrist ist abhängig von der Dauer der Dienstjahre und dauert im ersten Dienstjahr 30 Tage, vom zweiten bis und mit dem fünften Dienstjahr 90 Tage und ab dem sechsten Dienstjahr 180 Tage. Sie gilt erst nach Ablauf der Probezeit.
Nachweis und Rolle des Vertrauensarztes
Dass eine Krankheit vorliegt und eine Sperrfrist greift, müssen die Arbeitnehmenden beweisen. Dies geschieht in der Praxis mit einem Arztzeugnis. Arbeitgeberinnen oder auch die Taggeldversicherungen können aber eine Untersuchung durch einen Vertrauensarzt anordnen, wenn sie Zweifel am Arztzeugnis haben. Kommt der Vertrauensarzt zum Resultat, dass keine Krankheit und damit keine Sperrfrist vorliegt, hört das Gericht im Streitfall in der Regel alle beteiligten Ärztinnen und Ärzte als Zeugen im Prozess an. Das Gericht kann auch ein Gutachten anordnen, wenn es nach der Zeugenbefragung Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit hat.
Wann eine neue Sperrfrist entsteht
Eine Verschlimmerung derselben Krankheit, einschliesslich Auftreten neuer Symptome oder Beschwerden, oder ein Rückfall lösen keine zusätzliche Sperrfrist aus. Bei mehreren unterschiedlichen Krankheiten hingegen löst die zweite Krankheit eine neue Sperrfrist aus. Diese Rechtsprechung hat das Bundesgericht erneut bestätigt, wie ein kürzlich veröffentlichter Entscheid aus dem August 2025 zeigt. Dieser Bundesgerichtsentscheid illustriert auch die Probleme bei der Frage, ob tatsächlich eine neue Krankheit vorliegt oder vielmehr ein Zusammenhang mit einer Vorerkrankung besteht.
Wann beginnt eine neue Sperrfrist – und wann handelt es sich lediglich um einen Rückfall? Ein Bundesgerichtsentscheid zeigt, wie komplex diese Frage im Arbeitsalltag ist.
Der zugrunde liegende Streitfall
Der Arbeitnehmer war seit 2009 bei der Arbeitgeberin tätig, zuletzt als regionaler Verkaufsleiter. Nach einem Herzinfarkt im Mai 2018 war er bis zum 31. Juli 2018 vollständig krankgeschrieben, zwischen dem 1. August 2018 und dem 31. August 2018 zu 50 Prozent. Der Herzinfarkt löste eine 180 Tage dauernde Sperrfrist aus. Am 21. August 2018 unterbreitete die Arbeitgeberin dem Arbeitnehmer einen Zusatzvertrag zum Arbeitsvertrag, welcher sein Salär und seinen Aufgabenbereich verändern sollte. Der Arbeitnehmer lehnte dies ab und war ab dem darauffolgenden Tag bis zum 28. Februar 2019 wegen Depression und Angstzuständen zu 100 Prozent krankgeschrieben. Arbeitgeberin und Arbeitnehmer stritten sich in der Folge auch um Provisionszahlungen, weshalb der Arbeitnehmer am 22. November 2018 ein Schlichtungsgesuch gegen die Arbeitgeberin auf Bezahlung von Provisionen einreichte. Am 29. November 2018 kündigte die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis mit dem Arbeitnehmer per 28. Februar 2019, während der Arbeitnehmer wegen der Depression und Angstzuständen noch immer krankgeschrieben war. Die 180 Tage dauernde Sperrfrist aufgrund des Herzinfarkts war zu diesem Zeitpunkt bereits verstrichen, und die Arbeitgeberin war der Ansicht, die depressive Erkrankung sei eine Folge des Herzinfarkts und keine neue Krankheit. Deshalb sei auch keine neue Sperrfrist ausgelöst worden. Der Arbeitnehmer aber machte geltend, die Depression sei durch den Streit am Arbeitsplatz ausgelöst worden, weshalb die Kündigung nichtig sei. Rein vorsichtshalber kündigte die Arbeitgeberin dem Arbeitnehmer am 15. März 2019 nochmals, also nach Ablauf der neuen 180 Tage dauernden Sperrfrist, die ab der Depression begann.
Das Urteil des Bundesgerichts
Sowohl die kantonalen Gerichte als auch das Bundesgericht sahen die Depression als eine eigenständige Krankheit an, welche durch den Konflikt am Arbeitsplatz ausgelöst worden sei. Die Kündigung vom 29. November 2018 erfolgte deshalb während einer Sperrfrist und war nichtig. Die Gerichte stützten sich dabei auf die Zeugenaussage des behandelnden Arztes des Arbeitnehmers vor der ersten Instanz, obwohl die Arbeitgeberin Berichte von drei anderen Ärzten als Beweismittel vorgelegt hatte, welche den Herzinfarkt als Ursache für die Depression sahen. Erst die bloss vorsichtshalber ausgesprochene Kündigung vom 15. März 2019 beendete das Arbeitsverhältnis rechtsgültig.
Fazit und Empfehlung
Das Bundesgerichtsurteil illustriert die praktischen Probleme, die sich ergeben können bei mehreren aufeinanderfolgenden Krankheiten. Wann eine neue Krankheit und wann eine Verschlimmerung oder ein Rückfall einer Krankheit vorliegt, ist gerade für die Arbeitgeberin oftmals schwierig festzustellen. Wenn die Arbeitnehmenden eine Kündigung wegen einer angeblich neuen Sperrfrist als nichtig erachten, sollten Arbeitgeberinnen eine vertrauensärztliche Untersuchung anordnen und nach Ablauf der hypothetischen zweiten Sperrfrist erneut kündigen, um böse Überraschungen vor Gericht zu vermeiden.