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Volksinitiative zum Bürgerdienst würde dem Arbeitsmarkt 30 000 Personen entziehen

Die Bürgerdienst-Initiative will sicherstellen, dass Armee und Zivilschutz genügend Leute bekommen. (Adobe Stock)

Volksinitiative zum Bürgerdienst würde dem Arbeitsmarkt 30 000 Personen entziehen

Wirtschaft

13.11.2025 | nzz.ch

Volksinitiative zum Bürgerdienst würde dem Arbeitsmarkt 30 000 Personen entziehen

Die Vorlage für einen «Service Citoyen» hätte weitreichende Folgen. Erstmals gäbe es eine Dienstpflicht für die Frauen. Die Wirtschaft befürchtet hohe Zusatzkosten.

Das Volk stimmt am 30. November nicht nur über die Erbschaftssteuerinitiative der Jungsozialisten ab. Zur Debatte steht auch die Volksinitiative für eine allgemeine Bürgerdienstpflicht. Die ersten Umfragen vom Oktober zeigten ebenso viele Sympathisanten wie Skeptiker – obwohl von den etablierten politischen Parteien nur die Grünliberalen und die EVP die Ja-Parole ausgaben.

Im 27-köpfigen Initiativkomitee sitzen Personen aus verschiedenen politischen Lagern. Der verlangte Bürgerdienst («Service Citoyen») soll laut den Urhebern den Sollbestand von Armee und Zivilschutz sichern sowie das Gemeinschaftsgefühl im Land stärken. In einer Umfrage von Anfang dieses Jahres bei gut 2000 Personen für die jüngste Sicherheitsstudie der ETH sprachen sich rund zwei Drittel für einen allgemeinen obligatorischen Bürgerdienst für Schweizer Männer und Frauen aus.

Allerdings bieten allgemeine Fragen keine verlässliche Prognosebasis für Abstimmungen. Der Bundesrat hatte es 2022 in einem Bericht zum Dienstpflichtsystem wie folgt gesagt: «Die abstrakte Idee einer Dienstleistung für die Gemeinschaft ist populärer als deren konkrete Umsetzung mit einer Dienstpflicht.»

Doppelt so viele Pflichtige

Die Initiative verlangt eine Dienstpflicht für alle Männer und Frauen mit Schweizer Pass – was die Zahl der Dienstpflichtigen pro Jahr laut Bundesrat von heute rund 35 000 auf 70 000 Personen verdoppeln würde. Sie garantiert den Sollbestand für die Armee und den Zivilschutz. Wenn der Armee Personal fehlte, gäbe es somit keine freie Wahl zwischen Militär- und Zivildienst. In der Praxis dürfte aber die Initiative zu einem starken Ausbau des Zivildienstes führen, da die Zahl der Dienstpflichtigen weit über die Bedürfnisse der Armee und des Zivilschutzes hinausginge. Und: Wer als Dienstpflichtiger keinen Dienst leistet, müsste eine Ersatzabgabe zahlen.

Aus ökonomischer Sicht würde die Initiative dem regulären Arbeitsmarkt jedes Jahr Zehntausende von Arbeitskräften entziehen, obwohl es dafür weder für die Armee noch für den Zivilschutz eine Notwendigkeit gibt. Vor allem deshalb lehnen die Wirtschaftsverbände die Vorlage ab. «Wegen der Ausweitung der Dienstpflicht würden rund doppelt so viele Personen wie heute während des Dienstes am Arbeitsplatz fehlen», schreibt der Gewerbeverband in der jüngsten Ausgabe seiner Verbandszeitung. Das hätte laut dem Verband speziell für Klein- und Mittelbetriebe gravierende Folgen, da diese mit besonders hohen Zusatzkosten zur Kompensation der Abwesenheiten rechnen müssten.

Die Gewerbevertreter kritisieren auch die mit der Ausweitung verbundene Verdoppelung der Kosten für die Erwerbsersatzordnung von rund 800 Millionen auf 1,6 Milliarden Franken pro Jahr. Die genannten Zahlen entsprechen der Schätzung des Bundesrats. Ähnlich argumentiert der Arbeitgeberverband.

Auch der Zivildienst leistet einen Beitrag an die Gesellschaft. Zu den Einsatzgebieten zählen unter anderem Altersheime, Schulen, Spitäler und Naturschutzorganisationen. Doch wenn man Personen vorübergehend von ihren Berufen wegzieht hin zu einer Tätigkeit, für die sie nicht speziell qualifiziert sein mögen, ist aus ökonomischer Sicht mit Produktivitätseinbussen zu rechnen. Und Zivildienste von Studenten führen bei sonst unverändertem Verhalten zu einem späteren Eintritt der Betroffenen in den regulären Arbeitsmarkt.

33 000 Vollzeitstellen

Der Bundesrat hatte 2022 in seinem Bericht zum Dienstpflichtsystem folgende Rechnung aufgestellt: Mit einer allgemeinen Bürgerdienstpflicht würde sich die Zahl der jährlichen Diensttage von knapp 8 Millionen auf gut 15 Millionen verdoppeln – die Zunahme ergäbe umgerechnet rund 33 000 Vollzeitstellen.

Die Initianten verweisen auf eine Studie der Wirtschaftsuniversität Wien von 2024 über den Zivildienst in Österreich. Der Befund der im Auftrag des Staats erstellten Analyse zum Vergleich zwischen dem Status quo und einem Szenario ohne Zivildienst: Der ökonomische und der gesellschaftliche Nutzen des Zivildiensts überstiegen dessen Kosten deutlich.

Für die monetäre Bewertung der Zivildienst-Stunden verwendeten die Studienautoren die durchschnittlichen Personalkosten von hauptamtlichen Mitarbeitern. Der Haupttreiber des positiven Studienergebnisses ist laut den Autoren der «Ehrenamtseffekt»: Rund ein Drittel der Zivildienstler blieben nach Erfüllung der Dienstpflicht als Ehrenamtliche. Die Studienautoren sagen, dass gemäss Rückmeldung von Zivildiensteinrichtungen ohne den genannten Effekt nur etwa 35 Prozent der Ehrenamtsstunden durch Externe oder durch Mehrarbeit der Angestellten kompensiert werden könnten. Einiges hängt hier davon ab, inwieweit die zusätzlichen Ehrenamtsstunden andere «produktive» Tätigkeiten verdrängen.

Nachholbedarf bei den Frauen?

«Die Studie überschätzt den Nutzen des Zivildienstes deutlich», betont Patrick Chuard-Keller vom Schweizerischen Arbeitgeberverband. Die Annahmen zum Ehrenamtseffekt seien «sehr wacklig», und die Bewertungen setzten einfache Hilfstätigkeiten mit der Arbeit von Fachkräften gleich. «Unter realistischen Annahmen dürfte der ökonomische Effekt klar negativ sein», sagt Chuard-Keller, «weil es ökonomisch widersinnig ist, Arbeitskräfte aus produktiver Beschäftigung zu ziehen, um sie für Tätigkeiten einzusetzen, die unter ihrem üblichen Lohn- und Produktivitätsniveau liegen.» Die Studienautoren betonten diese Woche auf Anfrage, dass ihre Rechnungen auf Befragungen von Zivildienstlern und deren Arbeitgebern beruhten.

Die Schweizer Volksinitiative soll auch das Gemeinschaftsgefühl fördern. Wer darauf setzt, muss annehmen, dass die Frauen hier Nachholbedarf haben: Für die Schweizer Männer gibt es den Bürgerdienst bereits. Allerdings geht es bei der Volksinitiative wie bei den bestehenden Diensten um einen Zwang und nicht um Freiwilligenarbeit. Und zudem soll die Pflichterfüllung durch Erwerbsausfallentschädigung bezahlt werden.

Auch Parlament will Reform

Der Bundesrat denkt seit einigen Jahren über neue Modelle der Dienstpflicht nach. Im erwähnten Bericht von 2022 hatte die Regierung vier Modelle studiert und zwei davon verworfen. Im Rennen blieb die «Sicherheitsdienstpflicht». Sie würde nur für Männer gelten. Dieses Modell fasst Zivilschutz und Zivildienst unter einer neuen Organisation namens Katastrophenschutz zusammen.

Im Rennen blieb zunächst auch die «bedarfsorientierte Dienstpflicht». Sie würde für Männer und Frauen gelten – aber nur so weit, als es die Bedürfnisse der Armee und des Zivilschutzes erfordern. Ein ziviler Ersatzdienst aus Gewissensgründen wäre weiterhin möglich. Wegen der Verdoppelung bei der Zahl der Dienstpflichtigen könnten sich Armee und Zivilschutz die Leute aussuchen; wer nicht ausgewählt wird, müsste Ersatzabgaben zahlen.

In einem Folgebericht des Verteidigungsdepartements vom Januar 2025 schnitt die bedarfsorientierte Dienstpflicht besser ab – vor allem, weil der Sollbestand für Armee und Zivilschutz stärker gesichert wäre und die Nettokosten für den Staat angesichts der breiteren Ersatzabgaben deutlich tiefer wären.

Kritik an neuer Frauenpflicht

Doch politisch sieht das Bild ganz anders aus. Dies hatten schon Anhörungen für den Regierungsbericht von 2022 gezeigt. Die Idee von Dienstpflichtersatzabgaben für Frauen stiess auf Widerstand. Die Zeit für eine Dienstpflicht für Frauen sei «nicht reif». Frauenverbände betonten, dass zusätzliche Absenzen der Frauen vom Arbeitsplatz wegen einer Dienstpflicht zu verhindern seien.

So steht das Modell Sicherheitsdienstpflicht im Vordergrund. Nationalrat und Ständerat haben heuer je eine gleichlautende Motion unterstützt, die vom Bundesrat «schnellstmöglich» die Einführung der Sicherheitsdienstpflicht (nur für Männer) verlangt. Bei einem Volks-Ja zur Bürgerdienstinitiative müssten Bundesrat und Parlament über die Bücher.

Hansueli Schöchli «Neue Zürcher Zeitung»

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