(Illustration: Armin Apadana)

Versicherung
3.6.2025 | NZZ Content Creation
Mythen und Gewissheiten in der beruflichen Vorsorge
Pensionskassenvertreter kritisieren den zu hohen gesetzlichen Umwandlungssatz. Frauen bemängeln, das System werde den Teilzeitbeschäftigten nicht gerecht. Linke monieren, die zweite Säule sei bloss ein Steuervehikel für Reiche. Was stimmt?
Dieser Inhalt ist im Rahmen der NZZ-Verlagsbeilage «40 Jahre BVG» erschienen – realisiert durch NZZ Content Creation in Kooperation mit dem Pensionskassenverband ASIP. Hier geht es zu den NZZ-Richtlinien für Native Advertising.
Für die Versicherten dürfte das grösste Problem der zweiten Säule in deren Komplexität liegen, auch wenn sie das selber womöglich gar nicht so wahrnehmen. Die AHV funktioniert nach dem Umlageverfahren – die zweite Säule nach dem Kapitaldeckungsverfahren, jeder spart für sich. Das ging lange gut: Seit Inkrafttreten des BVG vor 40 Jahren betrug der Umwandlungssatz 7,2 Prozent bei einer jährlichen Mindestverzinsung von 4 Prozent. Finanziert wird die zweite Säule mit Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträgen. Wobei Arbeitgeber mindestens so viel beisteuern müssen wie Arbeitnehmer. Und dann werfen natürlich die angelegten Gelder Dividenden und Zinsen ab. Die Finanzmärkte sind deshalb so etwas wie der dritte Beitragszahler.
Doch mit dem Platzen der Technologieblase um die Jahrtausendwende geriet der Geldfluss dieses dritten Beitragszahlers ins Stocken – gleichzeitig stieg die Lebenserwartung. Eine wachsende Finanzierungslücke war die Folge. Was tun? 2003 brach die Winterthur-Versicherung mit der Tradition: Der obligatorische Teil wurde weiterhin mit dem hohen Satz von 7,2 Prozent umgewandelt, der überobligatorische nur noch mit 5,6 Prozent. Die anderen Anbieter folgten. Happige Rentenreduktionen waren die Folge. Den Versicherten wurde plötzlich bewusst, dass ihr Vermögen gewissermassen auf zwei Töpfe verteilt ist: den obligatorischen Topf mit besseren und den überobligatorischen Topf mit schlechteren Leistungen. Auf dem Papier liest es sich einfach, denn das Gesetz schreibt minimale Leistungen vor: Umwandlungssatz, versicherter Lohn, Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, Zins. Alles darüber hinaus ist überobligatorisch und unterliegt den Reglementen der einzelnen Kassen.
Wann ist es überobligatorisch?
Dieses Splitting hatte bei freiwilligen Einkäufen, Vorbezügen zur Finanzierung des Eigenheims oder Auszahlungen bei Scheidungen weitreichende Folgen. Sind diese Gelder nun obligatorisch oder überobligatorisch? Mit der ersten BVG-Revision von 2005 wurde der gesetzliche Umwandlungssatz schrittweise auf 6,8 Prozent gesenkt. Versicherungsmathematisch war das immer noch zu hoch, sodass auch die betriebseigenen Vorsorgeeinrichtungen für den überobligatorischen Bereich tiefere Renten auszahlten. Konkret legten sie einen Mischsatz von beispielsweise 5,5 Prozent fest, statt die beiden Töpfe mit verschiedenen Prozentsätzen in eine Rente umzuwandeln.
Mit einer Schattenrechnung müssen sie sicherstellen, dass der obligatorische Teil mit mindestens 6,8 Prozent in eine Rente umgewandelt wird – der überobligatorische Teil mit einem entsprechend tieferen Satz. Anrechnungsprinzip, nennt sich das. So wirklich transparent ist das aber nicht. Seit 2010 hatten die Stimmbürger dreimal über eine Senkung des Umwandlungssatzes von 6,8 Prozent zu befinden. Wie sollen sie da noch drauskommen, wenn ihre Pensionskasse einen Umwandlungssatz von zum Beispiel 5 Prozent anwendet? Wenig hilfreich fürs Verständnis ist auch der Umstand, dass nicht alle Vorsorgeeinrichtungen den gleichen Regeln unterworfen sind: Ein Unternehmen kann sich grundsätzlich für eine betriebseigene Pensionskasse oder für den Anschluss an eine Gemeinschafts- beziehungsweise Sammeleinrichtung entscheiden.
Für die Versicherten dürfte das grösste Problem der zweiten Säule in deren Komplexität liegen, auch wenn sie das selber gar nicht so wahrnehmen.
Zudem gibt es noch das «Vollversicherungsmodell», wie es mittlerweile nur noch fünf Versicherer anbieten, nachdem sich die Zürich in den frühen Nullerjahren und die Axa auf 2019 wegen der unbefriedigenden Rahmenbedingungen von diesem Geschäftsmodell verabschiedet haben.
Die Vollversicherer, die im Unterschied zu den betriebseigenen Pensionskassen nicht vom Bundesamt für Sozialversicherungen, sondern von der Finanzmarktaufsicht beaufsichtigt werden, haben strengere Auflagen zu erfüllen. Sie müssen die Vorsorgeleistung stets zu 100 Prozent garantieren können und dürfen nicht in eine vorübergehende Unterdeckung geraten. Würde das Kapitaldeckungsverfahren konsequent durchgezogen, müsste der gesetzliche Umwandlungssatz gesenkt werden können. Drei verlorene Abstimmungen zeigen, dass das zurzeit kaum realistisch ist.
Die Folge: Quersubventionierungen von Gut- zu Geringverdienenden, vom Überobligatorium zum Obligatorium. Das sei nicht systemkonform, kritisieren bürgerliche Politiker. Doch linke Kreise interessiert das wenig. Der Gewerkschaftsökonom Daniel Lampart sagte im Vorfeld der letztjährigen BVG-Abstimmung: «Die Versicherten interessieren sich nicht für systemkonform oder nicht, sondern dafür, wie hoch ihre Rente ist und wie viel sie dafür bezahlen.»
Es geht nicht ohne Umverteilung
Aufgrund basisdemokratischer Sachzwänge gilt es zu akzeptieren, dass auch die zweite Säule ohne eine gewisse Umverteilung nicht auskommt. Wobei gesagt sei, dass die zweite Säule schon immer mit Solidaritäten durchsetzt war – was allerdings nicht mit einer Umverteilung gleichzusetzen ist. Manche sind sich kaum bewusst, dass die zweite Säule nicht nur einen finanziellen Schutz für morgen, sondern auch einen finanziellen Schutz für heute bietet, nämlich für den Fall einer Erwerbsunfähigkeit. Des Weiteren bietet sie auch einen Schutz für die Hinterbliebenen: für Ehegatten, geschiedene Ehegatten, Kinder und in gewissen Fällen auch für Konkubinatspartner. Sie haben im Todesfall Anrecht auf eine Rente oder auf eine Abfindung.
Für diesen Schutz zahlen Arbeitnehmer und Arbeitgeber Risikobeiträge. Die Solidarität besteht hier darin, dass bei Alleinstehenden keine Hinterbliebene zu versichern sind; sie aber trotzdem Risikobeiträge bezahlen müssen. Das Kapitaldeckungsverfahren stösst im Gesetz auch an seine Grenzen, wenn es darum geht, die zweite Säule den gesellschaftlichen Entwicklungen anzupassen. Das zeigt sich unter anderem bei Teilzeit- und Mehrfachbeschäftigten. Der starre Koordinationsabzug benachteiligt Teilzeitbeschäftigte, und die Eintrittsschwelle benachteiligt Mehrfachbeschäftigte. Verdient eine Frau bei zwei Arbeitgebern je 15 000 Franken, so müsste sie laut Gesetz BVG-versichert sein. Aber keiner der beiden Arbeitgeber ist verpflichtet, sie laut BVG zu versichern. So führt das Kapitaldeckungsverfahren zu einem Gender-Gap.
Die Gewerkschaften möchten daher, dass, wie in der ersten Säule, auch in der zweiten Säule Ergänzungsleistungen und Entschädigungen für Care-Arbeit entrichtet werden. Das ist nicht systemkonform, werden Bürgerliche einwenden. Und der Bundesrat schrieb in seiner Antwort auf eine entsprechende Motion: Die berufliche Vorsorge sei gemäss Bundesverfassung «eine Versicherung für die Erwerbseinkommen von Erwerbstätigen». Wollte man unbezahlte Tätigkeiten wie der Betreuung von Angehörigen versichern, bräuchte es eine Änderung der Verfassung.
Der ehemalige FDP-Ständerat Ruedi Noser sagte einmal in der BVG-Debatte, neben den drei Beitragszahlenden – Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Finanzmärkte – gebe es noch einen vierten: die Steuern.
Mit der Senkung des Umwandlungssatzes steigt theoretisch der Anreiz, auf die Rente zu verzichten und das Kapital zu beziehen. Mittlerweile lassen sich mehr als die Hälfte der BVG-Versicherten zumindest einen Teil des Guthabens als Kapital auszahlen. Dabei muss man wissen, dass der Kapitalbezug früher nur beschränkt möglich war. Erst mit der Zeit ist die Option des Kapitalbezugs ausgeweitet worden, nicht zuletzt auch im Interesse der Vorsorgeeinrichtungen. Beim Bezug des Kapitals ist eine Steuer mit einem speziellen Tarif zu entrichten, und zwar unabhängig vom übrigen Einkommen. Diese fällt jedoch weniger stark ins Gewicht als der Steuerabzug beim Einkauf, insbesondere bei hohen Einkommen. Ob das so bleibt, ist aber eine andere Frage. Derzeit laufen Bestrebungen, den Kapitalbezug höher zu besteuern als bis anhin. Der ehemalige Zürcher FDP-Ständerat Ruedi Noser sagte einmal in der BVG-Debatte, neben den drei Beitragszahlenden – Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Finanzmärkte – gebe es noch einen vierten: die Steuern.
Wer der Pensionskasse Geld überweist, um damit Beitragslücken zu schliessen, kann dies vom steuerbaren Einkommen in Abzug bringen – analog der Säule 3a. Beitragslücken entstehen durch Lohnerhöhungen oder bei Scheidungen, wenn die Hälfte des gemeinsam erwirtschafteten Pensionskassenguthabens an die Vorsorgeeinrichtung des anderen Ex-Gatten überwiesen wird. Naturgemäss sind Gutverdienende eher in der Lage, solche Lücken wieder zu schliessen, um damit die Leistungen zu verbessern – und eben auch, um Steuern zu sparen.
Autor: Claude Chatelain
Für Nostalgiker
Wem sagen die Namen Rudolf Gnägi, Pierre Graber, Ernst Brugger, Kurt Furgler, Willy Ritschard, Hans Hürlimann, Georges-André Chevallaz noch etwas? So hiessen Mitte der 1970er Jahre die sieben Bundesräte. Sie hatten sich mit dem Bundesgesetz über die berufliche Vorsorge (BVG) zu befassen, das schliesslich 1985 in Kraft gesetzt wurde. Die Geschichte, erzählt von Professor Ueli Kieser (Universität St. Gallen), geht so: Die Vernehmlassung zum BVG fand 1976 statt. Danach entwarf der zuständige Ausschuss den Gesetzesentwurf. Doch die sieben genannten Magistrate waren der Meinung, der ihnen vorgelegte Gesetzestext von 150 Seiten sei zu kompliziert. Sie beauftragten Professor Thomas Fleiner (Universität Freiburg), «eine für Nichtspezialisten leichter verständliche Fassung auszuarbeiten». Zu kompliziert? Welch bissige Ironie: Heute umfasst ein BVG-Kommentar mehr als 2500 Seiten, verfasst von 36 Autoren, mit einem seitenlangen Stichwortverzeichnis, um die 10 000 Fussnoten verweisen auf das Literaturverzeichnis mit rund 1500 Einträgen von bereits publizierten Beiträgen. Was kompliziert tönt, ist es auch.