Es herrscht ein Mangel an engagierten Arbeitskräften: Dank dem Zeitwertkonto lohnt es sich sogar, Überstunden zu leisten. (Symbolbild/Adobestock))

Wirtschaft
28.7.2025 | nzz.ch
Die Deutschen und die Schweizer arbeiten zu wenig – diese Methode bewirkt, dass sich Leistung eher lohnt
Bundeskanzler Merz klagt über die fehlende Arbeitsmoral. Es gibt jedoch ein erfolgreiches Gegenmittel – welches auch die Schweiz brauchen könnte.
Der deutsche Kanzler Friedrich Merz will die Menschen dazu animieren, mehr zu arbeiten. «Leistung muss sich wieder lohnen», forderte er in seiner Regierungserklärung. Um die Wirtschaft in Schwung zu bringen, will er den Acht-Stunden-Tag abschaffen. Stattdessen soll nur noch eine wöchentliche Höchstarbeitszeit gelten. Worauf die Gewerkschaften sofort auf die Barrikaden gestiegen sind: «Hände weg vom Arbeitsgesetz!», lautet ihre Losung.
Merz steht vor einer kniffligen Aufgabe: Wie motiviert er die Deutschen zu mehr beruflichem Engagement? Gemäss Zahlen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) leisten sie zusammen mit den Franzosen und Belgiern den geringsten Arbeitseinsatz weltweit: Pro Einwohner im Erwerbsalter sind es 1036 Stunden pro Jahr. Die Amerikaner, die Australier oder die Polen kommen auf 1300 Stunden. In der Schweiz ist der Wert mit 1224 Stunden ebenfalls um einen Fünftel höher. Wobei der Trend auch hierzulande rückläufig ist: Beschäftigte mit Vollzeitpensum haben ihre wöchentliche Arbeitszeit in nur fünf Jahren um 50 Minuten reduziert.
Mit ein paar Korrekturen beim Arbeitsgesetz lasse sich dieses Malaise aber nicht beheben, sagt Thomas Hasslöcher, deutscher Geschäftsführer der Firma Pens Expert. Denn das Problem bestehe darin, dass in Deutschland die Arbeitsanreize fehlten. «Wenn ich Überstunden leiste, so geht rund die Hälfte meines zusätzlichen Einkommens weg an den Staat. Da überlegen sich die Leute zweimal, ob sie ihre Freizeit für etwas mehr Lohn opfern wollen.»
Bei Jungen boomt die «Mini-Pension»
Hinzu kommt, dass die Generation Z und die Millennials Wert auf ihre Work-Life-Balance legen. Der neuste Trend ist die «Mini-Pension» – auf Englisch «Micro Retirement». Erwerbstätige gönnen sich vermehrt eine berufliche Auszeit von mehreren Monaten. Im Unterschied zum Sabbatical jedoch kehren sie danach nicht in den früheren Job zurück, sondern suchen während der Pause eine neue Stelle. Dies funktioniert, weil die Unternehmen nicht mehr das klassische Durcharbeiten bis zum Rentenalter erwarten, sondern Lücken im Lebenslauf tolerieren.
Der Fachkräftemangel hat zu einer Machtverschiebung von den Arbeitgebern zu den Erwerbstätigen geführt – namentlich gut Gebildete sitzen oft am längeren Hebel. Umso wichtiger sei es für die Firmen, die begehrten Arbeitskräfte besser einzubinden, betont Hasslöcher. Sein Rezept ist das Zeitwertkonto, oft auch Lebensarbeitszeitkonto genannt. Dieses ermöglicht es, flexibel Arbeitszeit anzusparen, um später bei Bedarf davon zu zehren. Das Modell habe den volkswirtschaftlichen Vorteil, dass sich die Leistung – wie von Merz gewünscht – wieder mehr lohne. «Im Gegensatz allerdings zur Aufhebung der Acht-Stunden-Woche braucht es dazu keine staatliche Anordnung. Vielmehr können die Firma und der Angestellte selbständig eine Lösung vereinbaren.»
Ein wichtiger Faktor sind die Einsparungen bei den Steuern. Wer nämlich Überstunden leistet, muss diese dank dem Zeitwertkonto nicht versteuern, sondern kann das Guthaben als Reserve für später ansammeln. Aufgelöst wird die gebildete Rücklage dann beispielsweise bei einer Auszeit, einer Weiterbildung oder einer Frühpensionierung. Erst zu diesem Zeitpunkt wird eine Steuer fällig.
Auszeit führt zu keiner Lohneinbusse
Das Vorgehen lohnt sich aus mehreren Gründen: Der Angestellte glättet seinen Einkommensfluss und muss während der Auszeit nicht auf einen Lohn verzichten. Dadurch wiederum lässt sich die steuerliche Progression brechen, indem man in besonders ertragreichen Jahren weniger Geld an den Fiskus abliefern muss. Überdies kann der Angestellte sein Guthaben auf dem Zeitwertkonto an den Finanzmärkten investieren und somit eine Rendite erwirtschaften.
Der Zinseszinseffekt ermöglicht dabei enorme Wertgewinne, wie Hasslöcher an einem Beispiel verdeutlicht: Ein Angestellter hat ein Guthaben von insgesamt 147 000 Euro in sein Zeitwertkonto eingebracht. Über einen Zeitraum von 26 Jahren kann er dieses Kapital um stolze 320 000 Euro auf 467 000 Euro steigern. Wie ist dies möglich? Einen stattlichen Beitrag von 239 000 Euro Euro leisten die Börsengewinne – gerechnet mit einer jährlichen Rendite von 5 Prozent. Weitere 81 000 Euro kommen durch die gesparten Steuern hinzu.
Trotz dem Lamento über die fehlende Leistungsbereitschaft: Immerhin erbringen die Deutschen laut Statistik schon heute Überstunden im Wert von 30 Milliarden Euro. Mit einer flächendeckenden Verbreitung des Zeitwertkontos liesse sich dieser Wert nochmals deutlich steigern, ist Hasslöcher überzeugt. Denn nach seiner Einschätzung ist das Konzept derzeit nur bei etwa 15 Prozent der Unternehmen im Einsatz, primär bei den Grosskonzernen. Pens Expert hat daher ein digitales Modell entwickelt, welches auch für KMU eine günstige Abrechnung ermöglicht und bereits bei 500 Firmen im Einsatz steht.
Job und Privatleben vermischen sich
Auch in der Schweiz sieht Pens Expert ein grosses Potenzial für dieses Konzept. Ohnehin stammt die Firma aus Luzern und ist hierzulande mit diversen Vorsorgelösungen wie etwa Freizügigkeitsstiftungen präsent. Das Zeitwertkonto trage der zunehmenden Vermischung von Beruf und Privatleben besser Rechnung, sagt Hasslöcher. Denn das Instrument erhöhe die langfristige Loyalität der Mitarbeitenden: «Der Arbeitgeber muss nicht mehr befürchten, dass er den Angestellten nach einer Auszeit verliert, sondern er besitzt ein gutes Argument, um diesen danach wieder zurückzuholen.»
Laut einer repräsentativen Studie, die Pens Expert in Auftrag gegeben hat, erachten auch in der Schweiz drei Viertel der Befragten es als wünschenswert, dass sie Überstunden, nicht bezogene Ferien oder freiwillige Sparbeiträge auf einem speziellen Vorsorgekonto ansparen und später für bezahlte Auszeiten nutzen können. Eingesetzt würde diese Reserve laut Umfrage für eine Frühpensionierung, ein Sabbatical, eine Weiterbildung oder eine längere Elternzeit.
Gemäss der Studie könnte das Zeitwertkonto die Beschäftigten zudem motivieren, über das Pensionsalter hinaus zu arbeiten. Denn immerhin jede zweite Person kann sich vorstellen, ein Jahr später in Rente zu gehen – wenn sie dafür in früheren Jahren eine bezahlte Auszeit von sechs Monaten nehmen darf.

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